Die Zeiten, in denen Schulnoten ausschlaggebend dafür waren, ob ein junger Mensch einen Ausbildungsplatz erhielt oder nicht, sind vorbei. Viele Unternehmen schauen heute auf ganz andere Faktoren.
Autor/in Sebastian Haak
Es war definitiv nicht das Zeugnis von Lion Reichelt, das Christian Storch überzeugt hat. Manch anderen Ausbilder hätten die Schulnoten von Reichelt sogar abgeschreckt. Doch Storch hat sich von derlei Zahlen nicht beirren lassen. Nicht bei Reichelt, der 16 Jahre alt ist und derzeit zum Konstruktionsmechaniker ausgebildet wird. "Wenn ich mich als Azubi damals sehe…", sagt Storch. "Ich war auch kein Einser-Kandidat." Dennoch hat er selbst es weit gebracht. Heute arbeitet er als Ausbildungsleiter bei der Arnold AG im südthüringischen Steinbach-Hallenberg, wo sich so ziemlich alles um Metall dreht.
Überhaupt ist das mit den Top-Schülern nach den Erfahrungen von Storch so eine Sache. "Ich hatte hier schon Einser-Kandidaten sitzen, die konnten keinen Schraubenzieher halten", sagt er. Deshalb war ihm Reichelt als potenzieller Auszubildender dann doch viel lieber als so mancher Theoretiker.
Denn Reichelt ist offenbar eher ein Praktiker. Einer, der sich auszuprobieren will. Es ist deshalb wohl kein Wunder, dass sich Storch zuerst während eines Praktikums des jungen Mannes von dessen Qualitäten überzeugen konnte.
Reichelt selbst erinnert sich gerne an diese kurze Zeit. Während seines Praktikums habe er das erste Mal in seinem Leben wirklich mit Metall arbeiten dürfen. Ganz anders als in der Schule, wo er während praktischer Unterrichtseinheiten immer nur Holz in der Hand gehabt habe.
"Das kann nicht an dem Jungen liegen"
Eine gewisse Unzufriedenheit mit dem deutschen Bildungssystem versucht Storch gar nicht zu kaschieren. "Wenn jemand schlecht in der Schule ist, sag’ ich immer: Das kann eigentlich nicht an dem Jungen liegen, dem ist das schlecht vermittelt worden."
Es gibt inzwischen überall in Deutschland ungezählte Einzelgeschichten wie diese. Unternehmen – getrieben auch durch den Mangel an Nachwuchs – kommen zunehmend davon weg, nahezu ausschließlich auf die Noten eines jungen Menschen zu achten.
Die persönlichen und damit ganz individuellen Stärken von potenziellen Auszubildenden würden heute für viele Personalverantwortliche eine wichtigere Rolle spielen als Noten, sagt daher die Abteilungsleiterin Aus- und Weiterbildung der IHK Südthüringen, Anja Boller. "Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist ein zuverlässiges und interessiertes Verhalten der Bewerber gern gesehen."
Allerdings, sagt Boller, seien Schulnoten noch immer nicht völlig irrelevant. "Trotz des Bedeutungsgewinns persönlicher Stärken bieten die Schulnoten in den Fächern Deutsch, Mathe und Fremdsprachen nach wie vor eine Grundorientierung im Bewerbungsprozess – auch, wenn es unterschiedliche Schulformen und Bildungssysteme gibt."
Während vermeintlich harte Bewertungsmaßstäbe wie Noten tendenziell eher unwichtiger werden, werden vermeintlich weiche Faktoren wie Motivation oder Zuverlässigkeit eher wichtiger. Für entscheidend hält Storch auch das Bewerbungsfoto. Ihm schenkt er viel mehr Beachtung als Schulnoten. "So ein Foto spiegelt das Elternhaus", sagt er. Als ihm neulich ein Schüler ein Selfie als Bewerbungsfoto geschickt habe, habe er dessen Bewerbung aussortiert. "Ein bisschen Mühe sollte man sich schon damit geben", sagt Storch.
Bei schlechten Zeugnisnoten dagegen habe er Vergleichbares noch nie getan. "Egal, wie die Noten aussehen, ich lade die Leute ein", sagt Storch. Schlechte Erfahrungen hat er mit dieser Strategie nach eigenen Angaben noch nie gemacht.
Woran sollten sich Unternehmen heute noch stärker orientieren, wenn nicht an Schulnoten? Darüber hat "Position" mit Ute Leber gesprochen. Die promovierte Volkswirtin arbeitet im Forschungsbereich "Betriebe und Beschäftigung" des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit.
Frau Leber, welche Rolle spielen Noten in der Bildungs- und Arbeitswelt heute eigentlich noch?
Leber: Noten bestimmen in vielen Bundesländern nach wie vor darüber, auf welche weiterführende Schule ein Kind kommt – und auch für Betriebe und Universitäten sind sie wichtig bei der Auswahl von Auszubildenden und Studierenden, trotz aller Diskussionen über den Sinn von Noten.
Das Schulsystem in Deutschland ist föderal organisiert, zudem gibt es inzwischen viele verschiedene Schulkonzepte. Sind da Schulnoten eigentlich noch sinnvoll miteinander vergleichbar?
Solche Vergleiche sind selbstverständlich nicht unproblematisch. Das hat nicht nur mit den unterschiedlichen Schulsystemen zu tun. Auch innerhalb von Schulen kann die Bewertung von Schülern unterschiedlich ausfallen, zum Beispiel in Abhängigkeit vom Leistungsniveau in einer Klasse. Das muss man immer bedenken.
Was sind denn nach Ihren Forschungen Kriterien, an denen sich Unternehmen schon heute orientieren, wenn sie Lehrlinge suchen? Jenseits von Noten …
Für viele Unternehmen sind inzwischen Faktoren wie Zuverlässigkeit und Motivation ganz wichtig. Die Stellenbesetzungsprobleme am Ausbildungsmarkt führen dazu, dass Unternehmen zunehmend kompromissbereit sind, wenn sie einen Bewerber vor sich haben, der solche Anforderungen gut erfüllt, aber schlechtere Noten hat.
Aber wie messe ich als Personaler oder Ausbilder, wie motiviert und zuverlässig jemand ist?
Praktika von jungen Menschen können ein guter Weg sein, um sich dieser Frage zu nähern. Es ist wichtig, dass sich Betrieb und Jugendliche kennenlernen. Optimal ist, wenn ein Jugendlicher im eigenen Unternehmen ein Praktikum macht. Aber auch die Erfahrungen, die andere Unternehmen mit ihm gemacht haben, sind hilfreich. Es kann also nichts schaden, in einem anderen Unternehmen anzurufen und nach den dortigen Erfahrungen mit einem jungen Menschen zu fragen. Da darf man ruhig seine persönlichen Kontakte nutzen.
Gibt es Dinge, auf die Unternehmen jenseits der Schulnoten noch stärker achten sollten, als sie das bislang tun?
Grundsätzlich sollten Unternehmen noch offener werden, benachteiligte Jugendliche einzustellen – also auch jungen Menschen eine Chance geben, die zum Beispiel gar keinen Schulabschluss geschafft haben oder von Förderschulen kommen. Hier können zum Beispiel auch Schnuppertage oder Hospitationen für Unternehmen ein Weg sein, potenzielle Lehrlinge besser kennenzulernen, ohne auf Noten zu schauen.
Kontakt
Thilo KunzeReferatsleiter Infocenter, Chefredakteur POSITION
Dieser Beitrag stammt aus dem IHK-Berufsbildungsmagazin "Position". Es erscheint jeweils zum Quartalsanfang und bietet vor allem Ausbildern, Personalverantwortlichen und Prüfern Tipps, Ideen und Tools zur Fachkräftesicherung, Best Practices sowie bildungspolitische Vorschläge. Unter www.ihk-position.de begleiten Hintergründe, Bilderstrecken und Videos online das Printprodukt.
Bewerbungsunterlagen : Allein schon aus deren äußerem Erscheinungsbild wird deutlich, wie viel Mühe sich jemand damit gegeben hat, was viel über dessen Motivation aussagt.
Zuverlässigkeit : Aussagekräftig sind zum Beispiel die Pünktlichkeit zum Vorstellungsgespräch oder die Schnelligkeit, mit der jemand zurückruft.
Praktika oder Schnuppertage sind eine gute Gelegenheit, junge Menschen wirklich kennenzulernen – jenseits von Noten.
Gespräche mit den Eltern können nicht nur viel über den Bewerber verraten – letztere können ihn auch (positiv) beeinflussen und motivieren.