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Corona, De-Coupling und Zeitenwende: Deutsches Exportmodell auf dem Prüfstand

Gastbeitrag von Volker Treier im "ifo Schnelldienst" 1-2024
Blick von oben auf ein Containerschiff, das gerade von einem Kran beladen wird

Der für die deutsche Wirtschaft essenzielle Außenhandel wird zunehmend zum Sorgenkind

© golero / E+ / Getty Images

Exportweltmeister war gestern: Spätestens seit Mitte der 2010er-Jahren sind die international orientierten deutschen Unternehmen mit zunehmendem Protektionismus, überbordender Regulierung, geopolitischen Verwerfungen und weiteren Hürden konfrontiert. Wie sich der internationale Standortwettbewerb verändert hat und was die Betriebe jetzt brauchen, um sich behaupten zu können, hat DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier einem Gastbeitrag für den "ifo Schnelldienst" des Münchener ifo Institutes analysiert.

Lange galt die internationale Verflechtung und der resultierende wirtschaftliche Erfolg vieler deutscher Unternehmen als Aushängeschild unserer Volkswirtschaft. Auch wenn Deutschland seinen Titel als Exportweltmeister seit Jahren an das weit größere China abgeben musste, so bestach und besticht des Land mit einer relativ hohen Offenheitsquote, mit gewaltigen Handelsüberschüssen und beachtlichen Wachstumsbeiträgen des Außenbeitrags. Zwischenzeitlich, mindestens im Verlauf der 2010er-Jahre, entstand der Eindruck, dass Exporterfolge ein Selbstläufer seien. Besondere Anstrengungen in Form einer auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Standortpolitik sowie einer von Deutschland zu unterstützenden europäischen Freihandelsstrategie schienen kaum nötig. Das Teilweise-Zurückdrehen von Agenda-2010-Reformen sowie die Kontroversen und Widerstände aus Deutschland bezüglich eines transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP), was letztlich ein Grund für dessen Fehlschlagen war, sind Zeugnisse davon.

Heute holen uns diese Versäumnisse ein. Die Exportzuwachsraten sind seit etlichen Jahren bei Weitem schwächer als seit Gründung der Welthandelsorganisation (WTO), der Euro-Einführung, dem WTO-Beitritt Chinas oder der Osterweiterung der Europäischen Union – alles Ereignisse, die einen positiven Schub für die deutsche Außenwirtschaft entfachten. Das Blatt hat sich gewendet: Ein spätestens seit Mitte der 2010er-Jahren wachsender Protektionismus in vielen Auslandsmärkten, Corona- und Lockdown-bedingte Lieferdisruptionen und Bilanzschwächungen in Unternehmen, eine Aushöhlung der regelbasierten Handelsordnung WTO, das Aufeinanderprallen der geopolitischen Giganten USA und China, Entkopplungstendenzen bei den Wertschöpfungsketten, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, überstrapazierte Sanktionsregime und Energiepreisschocks in Deutschland und Europa sowie Versorgungsengpässe von Agrargütern für Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Liste externer Belastungsfaktoren lässt sich durch die neu entflammte Krise im Nahen Osten und ihre Auswirkungen auf Handelswege und Rohstoffmärkte sogar noch ausdehnen.

Viel ist von einer Reduzierung von Abhängigkeiten die Rede, auch wenn dabei Erdgas als Rohstoff der öffentlichen Daseinsvorsorge (Russland) mit der Fülle von Zulieferprodukten in Elektronik-, Pharmazie- oder Konsumgüterindustrie (China) in einen Topf geworfen werden. Nicht nur externe Faktoren, die wenig von der europäischen Politik zu beeinflussen sind, legen sich wie Mehltau auf das deutsche Exportmodell. Auch unilaterale Vorhaben wie die durch die Logik des European Green Deal (vermeintlich) notwendige CO2-Grenzabgabe oder das finanzpolitische Regelwerk Sustainable Finance bergen Belastungen für die Außenwirtschaft.

An manchen Stellen überdrehen wir das Rad sogar – indem bei verschiedenen Regulierungsvorhaben ähnliche politische Ziele verfolgt werden. Stichworte sind die EU-Verordnung für entwaldungsfreie Produkte und Lieferketten, das geplante Europäische Lieferkettengesetz, die Reportingstandards (CSRD) sowie die in Vorbereitung befindliche EU-Verordnung über das Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten. Wer einwirft, dass die Regulierungen nur Unternehmen ab einer bestimmten Größe in Verantwortung für ihre Lieferbeziehungen ziehen, vernachlässigt den Trickle-down-Effekt auf der Upstream-Seite. Die Breite der in internationalen Beziehungen befindlichen europäischen Unternehmen wird mit Haftung und Bürokratie überzogen, ohne dass amerikanischen, chinesischen Wettbewerbern ein Belastungsäquivalent gegenübersteht.

Was erwarten die Unternehmen?

Es scheint, dass nicht nur im sicherheitspolitischen Sinne eine Zeitenwende angeklungen ist. Auch im internationalen Standortwettbewerb sind die Veränderungen gravierend und werden mit anderen "Währungen" als früher gehandelt. Stichworte wie Managed Trade (USA) und Self-Reliance (China) stehen für die Erosion von Multilateralismus sowie einer Entkoppelung der globalen Wertschöpfungsketten.

Mittelfristig gehen die international aktiven Unternehmen davon aus, dass die Geopolitik ihre Geschäftstätigkeit weiter beeinflusst. Laut AHK World Business Outlook Frühjahr 2023, einer Umfrage unter weltweit mehr als 5.100 Mitgliedern der Deutschen Auslandshandelskammern (AHKs), rechnen 54 Prozent der Betriebe damit, dass Inflation, Geldpolitik und Verwerfungen im Währungs- und Finanzierungsgeschäft zu ihren größten Herausforderungen gehören werden. Aktuell noch immer hohe Inflationsraten in wichtigen Absatzmärkten – deren Ursachen vornehmlich in angebotsseitigen Verspannungen liegen – mit all ihren Problemen für Währungsabsicherung und Nachfrage wären somit ein persistentes Phänomen.

40 Prozent der deutschen internationalen Unternehmen stellen sich darauf ein, dass der politische Einfluss auf die globalen Lieferketten zunimmt. Ein Regelwerk, das sinnbildlich hierfür steht, ist das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das seit 2023 in Kraft ist. Auch über den Einsatz von Handelshemmnissen wird politisch Einfluss auf Lieferketten genommen. Ein Beispiel sind Local-Content-Vorschriften, die Unternehmen zur Produktion eines bestimmten Anteils der Wertschöpfung in einem Land verpflichten, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden.

Unternehmen sind auf funktionierende Lieferketten angewiesen. 37 Prozent sehen jedoch Schwierigkeiten bei der Versorgungssicherheit mit Rohstoffen und Energie. Jedes dritte der weltweit befragten Unternehmen (34 Prozent) blickt mit Sorge auf die Fragmentierung der Weltwirtschaft. Neben den Veränderungen in den Handelsströmen und der internationalen Arbeitsteilung muss die grüne und digitale Transformation bewältigt werden. In diesem Zusammenhang sehen immerhin 28 Prozent der deutschen Unternehmen an ihren internationalen Standorten Herausforderungen.

Die Unternehmen diversifizieren – und relokalisieren!

Aufgrund der Erfahrungen von unterbrochenen Lieferketten und gestiegener geopolitischer Risiken treibt ein Großteil der Unternehmen die Diversifizierung ihrer Lieferketten selbstständig voran. Laut AHK World Business Outlook haben bereits im Herbst 2021 mehr als die Hälfte der Betriebe verstärkt an der Diversifizierung ihrer Lieferketten gearbeitet. Auch in jüngeren DIHK-Umfragen wie zum Beispiel Going International 2023, wo 2.400 international aktive Betriebe in Deutschland befragt wurden, bleibt dieser Anteil hoch. Unternehmen suchen neue oder zusätzliche Lieferanten für ihre Produkte. Zudem verlagern sie Teile der Produktion oder ganze Produktionsstätten an neue Standorte. Oftmals werden Lieferanten oder neue Standorte in regionaler Nähe gesucht, damit kurze Lieferwege garantiert werden können. Dennoch spielt die Risikostreuung und -absicherung heute eine bedeutendere Rolle, so dass Lieferanten und Standorte in mehrere Länder verteilt werden. So suchen deutsche Unternehmen, die in China tätig sind, in weiteren asiatischen Ländern, um so eine "China+1-Strategie" umzusetzen.

In der Reorganisation der Wertschöpfungsstrukturen scheint Deutschland indes auf die Verliererseite zu kommen. Laut DIHK-Umfrage zu den Auslandsinvestitionen aus dem Frühjahr 2023 nannten 32 Prozent der Industrieunternehmen mit Investitionsplänen im Ausland Kostenersparnis als ihr Motiv – der höchste Wert seit 15 Jahren. Fast jedes dritte Unternehmen, das im Ausland investiert, reagiert damit auf die sich verschlechternde Kostenstruktur in Deutschland. Gestiegene Energiepreise, eine vergleichsweise hohe Steuer- und Abgabenbelastung sowie eine Unmenge bürokratischer Nachweispflichten belasten das Geschäft. Auch sind laut Bundesbank 2022 die Netto-Kapitalabflüsse an Direktinvestitionen mit 125 Milliarden Euro aus Deutschland so hoch gewesen wie nie.

Der Prozess der Diversifizierung ist schwierig: Knapp die Hälfte der Unternehmen berichten von Problemen bei der Suche nach Geschäftspartnern. Die Identifizierung geeigneter Absatz- oder Beschaffungsmärkte (29 Prozent) und die Suche nach Standorten mit adäquater Infrastruktur (14 Prozent) ist mit hohem Planungsaufwand verbunden. Sind dann geeignete Geschäftspartner und Standorte gefunden, sehen sich Unternehmen mit erhöhten Regulierungsproblemen (34 Prozent) sowie Handelshemmnissen (24 Prozent) konfrontiert.

Es ist kein Wunder, dass sich die Unternehmen nach mehr Marktöffnung, Belastungsreduktion, fairen Wettbewerbsbedingungen und besseren Standortbedingungen sehnen. In der DIHK-Umfrage Going International 2023 wünschen sich 70 Prozent der auslandsaktiven deutschen Betriebe seitens der Politik einen stärkeren Abbau von Handelshemmnissen (auch von selbstgemachten!), 51 Prozent ehrgeizige Handelsabkommen, 38 Prozent bessere multilaterale Regeln und 19 Prozent bessere Finanzierungsmöglichkeiten.

Die europäische Politik muss (andere) Antworten geben

Um im globalen Wettbewerb auch künftig zu bestehen, müssen Deutschland und Europa ihre Hausaufgaben machen. Der US Inflation Reduction Act sollte als Weckruf dienen – in wichtigen Elementen aber nicht als Vorbild. Bestandteile des IRA (Subventionsgewährung mit lokalen Produktionsvorgaben) diskriminieren europäische Unternehmen – und unterminieren WTO-Regeln. Wichtig sind Ansätze, um die politischen Ziele bei der Defossilisierung zusammen mit der Wirtschaft umzusetzen.

Der eng vernetzten deutschen Wirtschaft würde ein zusätzlicher Protektionismus, wie Lokalisierungspflichten für EU-Subventionen oder die Abschottung des EU-Beschaffungsmarkts nach US-Vorbild, schaden – erst recht angesichts der aktuellen geopolitischen Lage, die Diversifizierung und Absicherung von Lieferketten nötig macht. Wichtig bleibt die Reziprozität bei den Asymmetrien im Umgang mit China. Dennoch: Die Unternehmen kennen die Herausforderungen des chinesischen Markts; Schutz geistigen Eigentum und gezwungener Technologietransfer sind laut AHK-Umfragen in China weiterhin ein Problem, aber für Einzelunternehmen kalkulierbar und kein Grund für das Negieren von Marktchancen.

Es ist höchste Zeit für eine Strategie, wie Europa wieder zu einem innovativen Industriestandort werden kann. Wichtig ist, die horizontalen Standortfaktoren in den Fokus zu stellen. Statt einer detaillierten Regulierungsagenda mit sich ändernden Zielkoordinaten, die Bürokratie und Berichtspflichten sowie Unsicherheiten für Investoren schafft, sollten der Bürokratieabbau vorangehen und Innovationen ermöglicht werden. Der Zugang zu Fachkräften, leistungsfähiger Infrastruktur, erschwinglichem Kapital und bezahlbarer Energie muss ebenso gewährleistet werden wie die Möglichkeit zukunftsträchtiger F&E. Der Dienstleistungsverkehr muss EU-weit liberalisiert werden. Die Entsendung von Arbeitnehmern in der EU sollte vereinfacht und vereinheitlicht werden. Statt über neue EU-Schulden in den globalen Überbietungswettbewerb für Subventionen einzusteigen, sind zielgenaue Investitionsanreize (CapEx, nicht OpEx!) insbesondere im Energie- und Technologiebereich ratsam. Technologieführerschaft bei bestimmten Transformations- und Zukunftstechnologien zu gewinnen, sollte das Gebot der Stunde sein.

Wichtig ist, dass die EU nicht mit ihren wirtschaftspolitischen Erfolgsprinzipien (Offenheit und Integration der Märkte, freie Preisbildung, Vertragsfreiheit, Konstanz der Wirtschaftspolitik et cetera) bricht. Net Zero Industry Act und Raw Materials Act lassen gleichwohl eine falsche Zeitenwende erahnen: Was als neue grüne Industriepolitik dargestellt wird, beinhaltet protektionistische und dirigistische Elemente. Statt wirtschaftlichem Nationalismus, getarnt durch "Economic Security" und "Resilienz", sollte die internationale Arbeitsteilung die Richtschnur des Handelns bilden. So wichtig es ist, strategische Abhängigkeiten zu analysieren und Diversifizierung zu fördern, so kontraproduktiv sind "Managed Trade" und staatlich gelenkte Wirtschaft. Anstelle von staatlichen Diversifizierungs- und Produktionsvorgaben sowie mehr Bürokratie durch Dokumentationsauflagen und zusätzlicher Prüfungen sollten Anreize für die Unternehmen im Fokus stehen. Und der Trend, politische Nachhaltigkeitsrisiken in besonderer Fülle auf einzelwirtschaftliche Einheiten zu übertragen, führt zum Gegenteil dessen, was jetzt gefordert ist – die Diversifizierung von Bezugs- und Absatzmärkten.

Für die Reduzierung kritischer Abhängigkeiten (wie sie etwa die EU-Kommission für ihre Industriestrategie analysiert hat) brauchen die Betriebe jedoch auch politische Unterstützung. So könnten verschlossene oder schwierige Märkte rechtssicher und mit vertretbarem Aufwand bearbeitet werden. Deshalb bleiben die Finanzierungsinstrumente des Bundes, wie Exportkredit- und Investitionsgarantien, insbesondere für den Mittelstand wichtiger Bestandteil der Außenwirtschaftsförderung. Diese Instrumente werden aktuell an klimapolitische Leitlinien und Diversifizierungsziele angepasst. Wenn im Rahmen dessen Instrumente für bestimmte Länder und Sektoren eingeschränkt werden, dann sollte es an anderen Stellen bessere Konditionen geben.

Vor allem aber braucht es eine Stärkung des multilateralen Handelssystems sowie Freihandelsabkommen mit wichtigen Partnern, wie Indien, Indonesien oder Mercosur. Handelsabkommen bauen Hemmnisse ab und schaffen gemeinsame Standards sowie Rechts- und Planungssicherheit. Auch Verhandlungen mit den Golfstaaten sollten wieder aufgenommen und die noch ausstehenden Ratifizierungen der EU-Abkommen in Afrika rasch erfolgen. Die Reform des Allgemeinen Präferenzsystems der EU sollte den Handel mit Entwicklungsländern erleichtern, statt ihn zu erschweren. Diese sollten viel stärker in die Weltwirtschaft integriert werden – etwa durch eine globale Initiative für erleichterte Ursprungsregeln.

Für die EU ist es bedeutsam, Drittländer bei Zollabbau, Dienstleistungen, Öffentliche Beschaffung, Geistiges Eigentum und Investitionen zu einer Marktöffnung auf europäischem Niveau zu bewegen. Dies bedeutet die Abschaffung von Joint-Venture-Zwängen und die Beendigung diskriminierender Industriepolitiken. Ein effektiver Investitionsschutz trägt zum Erfolg von Abkommen bei. Rohstoffabkommen mit Lieferländern sollten Exportrestriktionen von Drittstaaten einen Riegel vorschieben. Überfrachtungen der Abkommen mit hohen ESG-Anforderungen an die Partnerländer sollten vermieden werden. Dialoge auf Augenhöhe sind notwendig, um endlich mehr gehaltvolle Handels- und Investitionsabkommen einzugehen. Die EU-Konnektivitätsstrategie Global Gateway sollte zudem stärker auf mittelständische Unternehmen ausgerichtet und mit der Handelspolitik verzahnt werden. Ebenso sollte Global Gateway auf die Erleichterung von Handelsströmen abzielen, anstatt diese durch "Friendshoring"-Vorgaben einzuschränken und zu politisieren.


Dieser Beitrag wurde im Januar abgedruckt im ifo Schnelldienst 01-2024.

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Dr. Volker Treier Außenwirtschaftschef | Mitglied der Hauptgeschäftsführung

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Dominik Ohlig Pressesprecher – Chef vom Dienst