Es sei ein falscher Bezugsrahmen gewählt worden. Somit habe es sich bei dem fraglichen Steuervorbescheid des Mitgliedstaats nicht um eine zu Unrecht gewährte staatliche Beihilfe gehandelt.
Steuerliche Beihilfeverfahren vor dem EuGH
Generalanwältin Kokott: EU-Kommission hat Luxemburg zu Unrecht aufgefordert, Beihilfen von Engie zurückzufordernDie EU-Kommission – und in der Nachfolge das Europäische Gericht – hatten entschieden, dass der Staat Luxemburg der ENGIE-Gruppe in einem Steuerbescheid selektive Steuervorteile und damit eine staatliche Beihilfe gewährt habe. Diese Entscheidungen seien jeweils rechtswidrig gewesen. So schlägt es Generalanwältin beim EuGH, Juliane Kokott, dem Gerichtshof in ihren Schlussanträgen vom 4. Mai 2023 vor (Fälle C-451/21 P und C-454/21 P). Der EuGH ist an Kokotts Rechtsgutachten nicht gebunden.
Laut der Generalanwältin könnte für die Frage, ob ein unrechtmäßiger Steuervorteil bestehe, nur das nationale - in diesem Fall luxemburgische Recht - Bezugsrahmen sein. Ein “Hineininterpretieren” von in anderen Rechtsordnungen gültigen Grundsätzen in das nationale Recht sei demgegenüber unzulässig. Insbesondere gebe es die Regel im luxemburgischen Recht nicht, dass die Freistellung von Einkünften auf Ebene des obersten Mutterunternehmens („Ultimate Parent Entity“) zwingend zu einer Besteuerung dieser Einkünfte auf Ebene eines Tochterunternehmens („subsidiary“) führen müsse. Und nur, wenn ein Steuervorbescheid (“tax ruling”) offensichtlich falsch sei, könne er – nach Ansicht der Generalanwältin – einen selektiven Vorteil im Sinne des EU-Beihilfenrechts darstellen. Unterhalb dieser Grenze seien Tax rulings ein wichtiges Instrument zur Herstellung von Rechtssicherheit, sofern sie Normen des einzelstaatlichen (Steuer-) Rechts nicht widersprechen und jedem Steuerpflichtigen grundsätzlich offenstehen.
Im Juni 2018 hatte die EU-Kommission auf eine staatliche Beihilfe in Höhe von 120 Millionen Euro an die Engie-Gruppe erkannt und von Luxemburg die Rückforderung dieser Summe verlangt. Das von Engie und von Luxemburg dagegen angerufene Europäische Gericht hielt diese Entscheidung aufrecht.
Frau Kokott schlägt nun hingegen vor, der EuGH solle der Klage stattgeben und sowohl die Ausgangsentscheidung als auch das erstinstanzliche Urteil aufheben. Wenn der Gerichtshof dem folgt, würde sich das Urteil in eine Reihe von gerichtlichen Niederlagen der Kommission in vergleichbaren Fällen (Fiat Finance, Starbucks, Amazon und Apple) einfügen. Nicht alle sind hingegen letztinstanzliche Entscheidungen.