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"Die Unsicherheiten nehmen zu"

Porträtfoto Hans-Werner Lindgens

Hans-Werner Lindgens, Vorsitzender des DIHK-Mittelstandsausschusses

© ACADEMIA-PRESS GmbH

Hans-Werner Lindgens, Vorsitzender des DIHK-Mittelstandsausschusses, blickt mit Sorge in die Zukunft und ist sich sicher, dass sich die Wirtschaft dauerhaft verändern wird.

Der deutsche Mittelstand ist sagenumwoben. Wie würden Sie ihn charakterisieren?

Mittelständische Unternehmen zeichnen sich durch Kreativität und schnelle Entscheidungen aus. Dadurch sind sie anpassungsfähiger als etwa Konzerne. Außerdem sind sie stark familiengeprägt und meist inhabergeführt. Ihre Entscheidungsträger denken in Generationen – und nicht in Quartalen, wie das bei börsenorientierten Unternehmen und ihren Führungskräften oft der Fall ist. Und: Der Mittelstand bildet aus. Etwa 90 Prozent der Auszubildenden lernen ihren Beruf in einem mittelständischen Unternehmen.

Langfristige Planungen machen den Mittelstand besonders krisenfest. Und trotzdem steht er mittlerweile massiv unter Druck. Die aktuellen Entwicklungen in Deutschland und der Welt gehen auch an ihm nicht spurlos vorbei: Ein Unternehmen zu führen, ist mit einer wachsenden Zahl von Unsicherheiten verbunden – auf die man in der Regel keinen Einfluss nehmen kann.

Was meinen Sie konkret?

Krisen und Kriege erzeugen großes menschliches Leid. Und sie wirken sich auch auf die Wirtschaft aus. Seit Corona und dem Krieg gegen die Ukraine müssen wir Welthandel neu denken. Lieferketten sind gerissen, in vielen Bereichen fehlen Material und Bestandteile. Teilweise müssen Produktionen in Deutschland heruntergefahren oder gestoppt werden. Diese Entwicklung im Welthandel erscheint mir unumkehrbar. Die "goldenen Zeiten" werden nicht zurückkommen. Erstmals seit Jahrzehnten sind wir gezwungen, Vorräte anzulegen – sowohl als Staat wie auch als Wirtschaft.

Wenn sich aber die Nachfrage so rasch erhöht, steigen die Preise. Außerdem schießen die Kosten für Energie regelrecht durch die Decke. Weil das Leben für die Menschen teurer wird, werden auch die Löhne anziehen. Für Unternehmen wird es dadurch immer schwieriger, Ausgaben realistisch zu kalkulieren. Wer sich verrechnet, bekommt Probleme mit der Liquidität. Als Segler würde ich es so formulieren: Wir befinden uns als Wirtschaft in unbekanntem Gewässer. Weil verlässliche Koordinaten fehlen, können wir unsere Position nicht mehr bestimmen. Der Kurs wird unsicher.

Welche Veränderungen sind Ihrer Meinung nach notwendig?

Ich bin immer noch Optimist. Das "Wir" muss in der deutschen Wirtschaft wieder im Vordergrund stehen. Das bedeutet: enger zusammenrücken, sich untereinander aushelfen und sich, wo nötig, gegenseitig unterstützen. Und: Wir müssen uns vom klassischen marktwirtschaftlichen Kapitalismus verabschieden und stattdessen mehr für stabile Lebensumstände tun. So hart das klingt! Sonst kommen wir, um wieder als Segler zu sprechen, von der einen schwankenden Situation in die andere. Da geht man schnell über Bord.

Die missliche Lage, in der wir uns als Volkswirtschaft und Gesellschaft befinden, ist zu guten Teilen hausgemacht. Sich in eine solche einseitige Energieabhängigkeit zu begeben, war schlichtweg politische Kurzsicht. Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung. Und die Inflation muss entschlossener bekämpft werden, sonst bleibt sie ein unerwünschter Dauergast in Europa – mit unabsehbaren Folgen für Bürger und Unternehmen.

Wir sollten endlich in längeren Zeiträumen denken und handeln. Die Folgen im Blick haben, nicht nur den unmittelbaren Effekt. Klugheit muss wieder erlaubt sein. Aufmerksam sein, die Welt beobachten, immer auch Eventualitäten mit einbeziehen. Und bei allem, was wir tun: an die Zukunft unserer Kinder und Enkel denken.

Kontakt

Porträtbild Dr. Marc Evers, Referatsleiter Mittelstand | Existenzgründung | Unternehmensnachfolge
Dr. Marc Evers Referatsleiter Mittelstand, Existenzgründung, Unternehmensnachfolge

Zur Person

Hans-Werner Lindgens ist Gründer der ACADEMIA-PRESS Gruppe mit Sitzen in Heidelberg, Wien und Zürich. Er ist Ehrenmitglied der Vollversammlung der IHK Rhein Neckar sowie Ehrensenator der EBS-Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. 2010 wurde Hans-Werner Lindgens das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

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