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Wirtschaft in der Türkei nach den Wahlen: Taumelt der Riese vom Bosporus?

Der türkische Präsident steht bei seiner Amts(Wieder-)einführung am Rednerpult und wird von Parlamentsmitgliedern beklatscht

Nach seiner Amtseinführung am 3. Juni steht Präsident Erdoğan vor großen Herausforderungen

© Chris McGrath / Getty Images News / Getty Images

Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft in der Türkei am 28. Mai konnte sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu mit knapper Mehrheit durchsetzen. Bereits zuvor hatte seine Partei mit einem Koalitionspartner die Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen. Somit ist der Weg für eine weitere fünfjährige Amtszeit von Präsident Erdoğan geebnet. Doch was bedeutet das für den wirtschaftspolitischen Kurs des geostrategisch äußerst wichtigen Landes am Bosporus? Und wie sehen deutsche Unternehmen – auch mit Blick auf die Zukunft – ihre Geschäftstätigkeit vor Ort?

Inflation und schwache Lira schmälern Standortattraktivität

Die Liste der wirtschaftlichen Herausforderungen für Präsident Erdoğan ist lang. Eines der drängendsten Probleme ist die hohe Inflation. Zwar liegt sie jetzt wieder merklich unter dem im Herbst 2022 erreichten Rekordwert von 86 Prozent. Die stark gestiegenen Preise für Waren des täglichen Bedarfs bleiben jedoch eine enorme Belastung für viele Menschen des 85-Millionen-Einwohner-Landes.

Auch für die Wirtschaft hat die Schwäche der türkischen Lira Auswirkungen. Viele Unternehmen sind auf den Import von Vorprodukten angewiesen, die sich durch die Abwertung der Landeswährung erheblich verteuern. So verwundert es nicht, dass in einer aktuellen Umfrage der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK Türkei) 75 Prozent der befragten Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung angaben, der volatile Wechselkurs stelle das größte Risiko für ihre geschäftliche Entwicklung dar.  Zu weiteren Risikofaktoren zählen insbesondere die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Durch unvorhersehbare staatliche Eingriffe können sich die Umstände, unter denen die Unternehmen vor Ort agieren müssen, schnell ändern. Der Wirtschaftsstandort Türkei wird dadurch im globalen Wettbewerb weniger attraktiv.

Neben diesen wirtschaftspolitischen Herausforderungen muss sich Präsident Erdoğan einer zusätzlichen Mammutaufgabe stellen: der Bewältigung der Folgen der verheerenden Erdbeben vom Februar 2023 im Südosten der Türkei. Wegen ihres Krisenmanagements stand die Regierung bereits wiederholt in der Kritik.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Finanzreserven der Türkei in den letzten Jahren erheblich verringert haben. Dies macht eine Krisenbewältigung durch umfangreiche Stützungsmaßnahmen der Regierung wie etwa Steuererleichterungen und direkte Geldzahlungen kaum möglich.

Alles Krise, oder was?

Trotz aller Herausforderungen zeigt die türkische Wirtschaft wie schon so oft eine erstaunlich hohe Resilienz. Auch bei den ausländischen Unternehmen, die seit vielen Jahrzehnten im türkischen Markt aktiv sind, lässt sich diese Widerstandsfähigkeit beobachten. In der Umfrage der AHK Türkei bewerten 69 Prozent der Unternehmen ihre aktuelle Geschäftslage als gut, während lediglich 3 Prozent sie als schlecht einschätzen. Auch hinsichtlich der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung der Türkei glaubt eine große Mehrheit der Unternehmen, dass diese besser (34 Prozent) oder zumindest gleichbleibend (28 Prozent) sein wird.

Doch nicht nur bei den vor Ort tätigen Unternehmen ist ein aufgehelltes Stimmungsbild zu erkennen. Auch die deutsch-türkischen Handelsbeziehungen weisen kontinuierlich Zuwächse auf. Zuletzt stieg das bilaterale Handelsvolumen von Januar bis April 2023 um 16,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Warenabnehmer und einer der größten ausländischen Investoren im Land. Knapp 7.600 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung sind derzeit im türkischen Markt aktiv – ein deutliches Zeichen für die enge ökonomische Verflechtung beider Länder.

Auch für die Zukunft ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die bilaterale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Türkei verfügt beispielsweise über hervorragende Bedingungen für den Ausbau von Wind- und Solarenergie. Durch die ohnehin vorhandenen Standortvorteile – die geografische Nähe zu Europa und die vergleichsweise gute Verfügbarkeit von Fachkräften – könnten sich gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und des grünen Wasserstoffes vielfältige weitere Kooperationsmöglichkeiten ergeben.

Wirtschaftspolitische Weichen auf vertiefte Zusammenarbeit stellen

Ob sich dieses Potenzial voll entfalten kann, hängt auch vom zukünftigen wirtschaftspolitischen Kurs ab. Eine zentrale Frage wird sein, inwieweit es der Regierung gelingt, durch eine konsequent inflationsorientierte Geldpolitik die Wechselkursschwankungen in den Griff zu bekommen. Dafür wäre eine unabhängig agierende Zentralbank von entscheidender Bedeutung. Zudem wäre ein höheres Maß an regulatorischer Stabilität und die Gewährleistung von Rechtssicherheit für (potenzielle) Investoren wichtig. Unvorhersehbare und übereilte Eingriffe in die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen ohne vorherige Konsultation von Wirtschaftsvertreterinnen und -vertretern kann die Unternehmen verunsichern. Die Gewährleistung eines freien Kapitalverkehrs wäre gestört.

Viele dieser Themen kann nur Recep Tayyip Erdoğan selbst angehen: Durch seine machtvolle Stellung innerhalb des 2017 eingeführten Präsidialsystems liegen Entscheidungen über die wirtschaftspolitische Weichenstellung (fast) ausschließlich beim Amtsinhaber.

Bei einigen Herausforderungen kann und sollte die deutsche Wirtschaft aber durchaus unterstützen – etwa beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und beim Aufzeigen von Beschäftigungsperspektiven in den Erdbebengebieten. Die DIHK und die AHK Türkei wollen gemeinsam mit weiteren Partnern im Rahmen einer großen deutsche und türkische Unternehmen zu diesem Zweck vernetzen. Die Veranstaltung findet am Donnerstag, 13. Juli im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin statt. Die Anmeldung zur Veranstaltung ist hier möglich.

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Kontakt

Frau im Haus der deutschen Wirtschaft
Maxi Hülsen Referatsleiterin Türkei, Zentralasien, Mongolei